ANNA SEGHERS

Ute Kaiser

Anna Seghers - Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen


Im Alter von 24 Jahren schrieb Anna Seghers in Paris diese Erzählung, die als eine ihrer schönsten und geheimnisvollsten gilt. Ihr Sohn Pierre Radvanyi entdeckte den Text erst nach dem Tod seiner Mutter, der dann im Jahr 2003 zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Ein eindrucksvolles Zeugnis der bedeutenden Schaffenskraft der jungen Schriftstellerin, voller Sinnlichkeit und Poesie. Eine Geschichte im Stil mittelalterlicher Heiligenlegenden vom Bischof Jehan d‘ Aigremont von St. Anne in Rouen, der zum Mörder wird und zugleich die Fähigkeit des Heilens hat.

CATALOG    nemu 016

D

Ute Kaiser - Stimme

Total Time: 68:58


Erhältlich hier:

http://www.hoerbuch.utekaiser.com

oder

im Buchhandel:

ISBN: 978-3-00-051095-3

Text: © Anna Seghers Stiftung vertreten durch die Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH

Titelbild: Anna Seghers, ca. 1920, Akademie der Künste, Berlin, Anna-Seghers-Archiv, © Anne Radvanyi

Photo Ute Kaiser: © Georg Kronenberg

Aufgenommen Juli/August 2015 im Evinger Schloß, Dortmund

Mastering: Ulrich Seipel, USM Produktion, Darmstadt

Graphic Design: Christiane Resch, Köln

Produktion: Ute Kaiser



Die Schauspielerin Ute Kaiser liest außerdem Werke der Schriftstellerinnen Margarete Steffin (Nemu 006), Mascha Kaléko u. a. Mit ihren Lesungsprogrammen

ist sie regelmäßig im deutschsprachigen Raum und den USA zu hören: z. B. im Literaturforum des Brecht Hauses, Berlin oder der New York University.


Kontakt: www.UteKaiser.com


Dieses Hörbuch ist mit Hilfe einer Subskriptionsliste entstanden. Herzlichen Dank an alle Unterstützerinnen und Unterstützer, die dieses Projekt durch Ihre

Grosszügigkeit und ihren warmherzigen Zuspruch ermöglicht haben.

Sagen und Legenden stehen am Anfang des erzählerischen Lebenswerks Netty Reilings, die sich schon früh den Künstlernamen Anna Seghers gibt. Ende des Jahres 1924 hatte sie ihre Doktorarbeit erfolgreich verteidigt und dafür als Anerkennung von den Eltern eine Reise nach Paris geschenkt bekommen. Auf dieser Reise und im darauf folgenden Frühling führt sie ein Tagebuch. Darin schreibt sie von einer Geschichte, die sie im Kopf hat und die unter dem Titel „Bischof“ auftaucht: „Morgens ‚Bischof’ begonnen. Angstvoll. Möge es gelingen.“ Sie ist gelungen und eine ihrer schönsten, geheimnisvollsten Erzählungen geworden, auch wenn die Schriftstellerin sie später beiseite legt und Zeit ihres Lebens nicht veröffentlicht. Ihr Sohn Pierre Radvanyi fand den Text viele Jahre nach dem Tod der Mutter unter alten Papieren aus der Zeit der Emigration in Paris und gab ihn im Jahr 2003 zum Druck.


Jener Jehan, der ehemalige Bischof der Kirche St. Anne in Rouen, ist ein ganz besonderer Mensch. Er ist zum Mörder an einer Hure geworden, und zugleich ist er ein Heiler, einer, der durch Auflegen seiner Hände Krankheiten und andere schlimme Gefährdungen heilen kann. Als er die schwarzhaarige Catharina kennenlernt, ist er gebannt von ihrer Schönheit. Eine Liebesgeschichte beginnt. Bald aber muss er feststellen, auf ihrer Haut breitet sich eine schreckliche Krankheit aus, kriecht wie ein böses braunes Tier immer weiter über ihren schönen Körper. Doch ausgerechnet ihr, gerade der Frau, die er liebt, kann Jehan nicht helfen. Hier versagt seine Heilkraft.


In dieser Erzählung, angelegt beinahe wie eine mittelalterliche Heiligenlegende, begegnet man den frühen Spuren des großen mythischen Erzählvermögens von Anna Seghers. Aus einer orthodoxen jüdischen Familie stammend, hat sie sich zugleich schon in der Jugend mit mittelalterlichen christlichen und alten mythologischen Überlieferungen beschäftigt. Das ist der Urgrund, auf dem sie steht, ihr kulturelles Hinterland. Der Glaube an ein göttliches Wirken ist damals noch ganz virulent in der jungen Frau, Beistand erhofft sie von dorther. Über ihrem Manuskript steht gar geschrieben: „mit Gottes Hilfe“. Christliches und Jüdisches werden sich im Erzählen der Anna Seghers auch später nicht ausschließen. Immer wieder sind es Figuren und Bilder aus der christlichen Ikonografie, die ihre Literatur besonders stark prägen. Nicht erst in der Kreuzsymbolik des Romans von dem siebten, leergebliebenen Kreuz wird diese Affinität spürbar. So viele Motive, die dann das Lebenswerk der Dichterin bestimmen, tauchen hier bereits auf. Sie, die gerade in ihrer Dissertation über den Maler Rembrandt geschrieben hatte, kommt vom Bild her. Das bestimmt ihren Stil, die Farbigkeit, die Intensität der Schilderungen. Die besondere Aura, die den Bischof Jehan umgibt, macht das sinnfällig. Wenn er seine Hände auflegt, wird alles gut. „Der Bischof Jehan von Priepournous, trala, der heilt die Weiber für 20 Sous, trala“, so singt man im Volk über ihn.


Eine Kette aus blauen Perlen wird zum Auslöser einer Tat, die das Verhängnis des Bischofs heraufbeschwört. Die Farbe Blau tritt bei Anna Seghers immer dann in Erscheinung, wenn es um Außergewöhnliches, Nichtalltägliches geht. So kann sich auch der Bischof Jehan später selber nicht erklären, warum er einen Zwang verspürte, diese einfache Perlenschnur zu kaufen und sie der Dirne zu schenken, die er zu sich kommen lässt und die er tötet – er weiß nicht wie. Einen Vorsatz, eine rationale Erklärung seiner Tat gibt es, wie so oft bei Anna Seghers, nicht. Im Tagebuch steht der entscheidende Satz: „ich habe meine Bilder wieder, ja sie bestürmen mich“, und sie setzen die erzählerische Fantasie der Autorin in Gang.


Auch ein ganz wichtiges Hauptmotiv der Anna Seghers gewinnt in dieser Geschichte erstmals Gestalt: Erzählen, um zu überwinden. Ein Urantrieb des Erzählens überhaupt. Der ehemalige Bischof, unter die Sträflinge geworfen, ist verwirrt und verunsichert. Doch als er nachts, flüsternd, drängend, den Mitgefangenen seine Geschichte erzählen kann, werden damit die Gespenster seiner Verlorenheit gebannt. Die anderen hören ihm zu, drängen sich um ihn, mit seinen Worten kann er sie ergreifen: „sie suchten in der Dunkelheit sein Gesicht, er war nicht mehr allein und also war alles gut“. Immer in Situationen des Alleinseins wird das Erzählen, Sich-Mitteilen zum rettenden Vorgang. Selbst wenn die Zuhörer Fremde sind, allein das Aussprechen des Bedrückenden hat heilsame Folgen. Und es erhellt die Zusammenhänge der Dinge, die sonst lose, unverständlich im Raum stehen bleiben würden. Bald ist Jehan von der Obsession ergriffen, immer und immer wieder von neuem von seiner Tat zu reden, „ich will ja nur alles der Reihe nach erzählen“, bis zum Überdruss der anderen.


Der Bischof Jehan in dieser Geschichte ist ein sonderbarer Mensch und wahrscheinlich schon deshalb seiner Schöpferin tief vertraut. Er liebt und will geliebt werden; ein armer, einsamer Mensch. Die Gegensätze erst machen ihn so schillernd und hintergründig. Voller Geheimnis bleibt nicht nur er selbst, sondern auch die Gestalt an seiner Seite, der rothaarige Chatchat, eine beinahe liebevolle Inkarnation des Teufels. Unter allen Mithäftlingen ist es gerade dieser, bei dem Jehan Trost findet. Und er ist es auch, der Jehan in die Welt der Parias einführt, in die Kneipen und ärmlichen, doch innen rot und blau gestrichenen Häuser am Flussufer – wie es bei Anna Seghers immer der Eine, Ungewöhnliche ist, der die anderen zu dem führt, was für sie bestimmt ist. Ganz nah ist die Schriftstellerin hier dem Milieu der Außenseiter, der Galgenvögel, Tagediebe und Prostituierten, wie sie es in ihrer meisterhaften Erzählung „Grubetsch“ schon wenig später im Stoffbereich des frühen 20. Jahrhunderts sein wird.


Doch ob es am Ende Reue ist, die der ehemalige Bischof fühlt, bezeugt die Erzählung nicht. Denn im Grund bleibt der Bischof Jehan stolz auf die ihm von Gott verliehene Gabe: Er ist ein Ausersehener. Im unübersehbaren Bezug auf die Wundergeschichte des heiligen Franz von Assisi liegt gerade das Geheimnisvolle der Erzählung.


Anna Seghers stattet ihre Figuren mit einer sonderbaren Anziehungskraft aus, die dafür sorgt, dass sie sich ins Gedächtnis einprägen, auch wenn sich nicht alle Handlungsmomente bis ins Letzte auflösen lassen. Das soll so sein. Manches wird in dieser Geschichte nur angerissen, ausprobiert. Doch schon hat die Erzählerin ein sicheres Gespür für das Einmalige, Besondere einer Situation. Der charakteristische Ton ist bereits gefunden. Schon ist sie auch infiltriert von den Ideen des Chiliasmus, der Erlösungstheorie und revolutionären Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft, worüber der junge Laszlo Radvanyi, Nettys zukünftiger Ehemann, bei Karl Jaspers in Heidelberg promoviert und die er mit leidenschaftlicher Intensität auf die geliebte Frau überträgt. Legenden, Sagen und Märchen wird Anna Seghers ihr Leben lang immer wieder schreiben, sie gehören zu den schönsten Erzählungen und lassen ihr großes Talent voll aufleuchten.


In der Liebesgeschichte zwischen diesen beiden scheinbar so ungleichen Menschen, dem Bischof und der Dirne, findet die Autorin zum ersten Mal eine ganz starke Sinnlichkeit des Erzählens. Die Körper des Paares, nach dem Liebesakt wieder auseinandergefallen wie die zwei Schalenhälften einer Frucht, malen ein intensives emotionales Bild der Vereinigung, in der die Liebe die Menschen zusammenführt.


Veröffentlicht wurde die Erzählung erstmals zusammen mit dem einzigen Tagebuch der jungen Frau Netty Reiling, das sie während der Paris-Reise im November 1924 beginnt und bis zum darauf folgenden Frühjahr weiterführt, 2003 unter dem Titel “Und ich brauch doch so schrecklich Freude“. Auch dieses Zitat aus den sehr persönlichen Aufzeichnungen wird dann zu einer Art Motto für das ganze Leben der Schriftstellerin Anna Seghers.


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